Ausgabe Oktober 2018

Gegen die Schwarze Null: Die Spielräume der Schuldenbremse

Deutschland lebt schon lange von der Substanz: Seit 2003 sind die staatlichen Nettoinvestitionen überwiegend negativ, das heißt, es wird weniger investiert als an bestehender Infrastruktur abgeschrieben wird. Dieser deutsche Sonderweg wurde in den vergangenen Jahren sogar noch europäisch verallgemeinert: Mit der zunehmend durchgesetzten Austeritätspolitik in der Eurozone reduzierten auch die anderen Länder ihre Investitionen auf das niedrige deutsche Niveau. Überall deuten die Werte inzwischen auf einen enormen Investitionsstau hin.[1]

So summieren sich in der Bundesrepublik allein von 2015 bis 2017 die negativen Nettoinvestitionen auf Gemeindeebene auf knapp 20 Mrd. Euro. Das aktuelle Kommunalpanel 2018 der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) und des Deutschen Instituts für Urbanistik schätzt den Investitionsrückstand auf insgesamt 159 Mrd. Euro. Auf Schulen und Bildungsinfrastruktur entfallen hierbei 48 Mrd. Euro. Der Investitionsstau der Länder und des Bundes – genannt seien nur der Breitbandausbau, die Krankenhausinvestitionen oder die Verkehrsinfrastruktur – sind hierbei noch nicht einmal berücksichtigt. Doch obwohl der Investitionsbedarf allerorten immer offensichtlicher wird, hat die Bundespolitik bislang keinen Kurswechsel vollzogen. Das Dogma der schwarzen Null feiert weiter fröhliche Urständ. Und mit der Schuldenbremse, die ab 2020 für die Bundesländer Neuverschuldung verbietet, wird es für Länder und Gemeinden noch schwerer, den Negativtrend bei Investitionen aufzuhalten. 

Dabei hat die gescheiterte Austeritätspolitik in Südeuropa längst zu einer Neubewertung öffentlicher Investitionen geführt. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung würden öffentliche Investitionen in qualitativ hochwertige Kitas und Ganztagsschulen, in bezahlbaren Wohnraum für mittlere und untere Einkommen sowie in eine moderne digitale Infrastruktur – insbesondere im Vergleich zu einer sofortigen Schuldentilgung – nicht nur für Wachstum und Beschäftigung sorgen, sondern auch die Einkommensungleichheit in Deutschland verringern. 

Aber auch die Unternehmen investieren weniger, wenn die staatlichen Investitionen schwächeln. Ohne den Impuls öffentlicher Gelder, die zu erhöhten inländischen Absatzchancen und verbesserten Angebotsbedingungen führen, bleiben die Investitionen des privaten Sektors unzureichend. 

Doch das irritiert die Verfechter der Schuldenbremse nicht. Dabei sind deren Setzungen völlig willkürlich: Die verfassungsmäßig festgeschriebene Zielvorgabe einer maximalen Netto-Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für den Bund und das komplette Verbot einer Netto-Neuverschuldung für die Bundesländer sind politisch gesetzt und nicht ökonomisch begründet. Faktisch läuft diese Regelung – bei einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum des nominalen BIP von 3 Prozent – langfristig auf eine gesamtstaatliche Schuldenstandsquote von 11,7 Prozent hinaus. Doch die Frage, ob es eine Schuldenobergrenze gibt, ab der sich wachstumsschädliche Wirkungen einstellen, ist unter Ökonomen sehr umstritten. Auf jeden Fall aber liegen die empirisch ermittelten kritischen Werte deutlich über der gegenwärtigen Schuldenstandsquote in Deutschland. Sie bieten daher keine wachstumspolitische Rechtfertigung dafür, eine Grenze weit unterhalb von 20 Prozent anzusteuern. Im Gegenteil: Den Kapitalmärkten droht ein wichtiger Stabilitätsanker und eine zentrale Orientierungsmarke verlorenzugehen, wenn es deutlich weniger Staatsanleihen geben wird. In welche Anlageform und in welche Länder die traditionell hohe Überschussersparnis des deutschen Privatsektors und damit auch die private Altersvorsorge fließen soll, ist damit völlig unklar. Die Stabilität der Finanzmärkte dürfte dies nicht erhöhen.

Zudem gibt die Finanzpolitik mit der Schuldenbremse das Pay-as-you-use-Prinzip auf. Dieses sieht eine strukturelle Neuverschuldung in Höhe der öffentlichen (Netto-)Investitionen vor – gerechnet auf den gesamten Konjunkturzyklus. Die Idee ist, mehrere Generationen an der Finanzierung des öffentlichen Kapitalstocks zu beteiligen.

Hinzu kommt, dass die Schuldenbremse prozyklisch wirkt, denn als ihr Maßstab dient die durchschnittliche oder trendmäßige Entwicklung des BIP. Wenn aber die tatsächliche Wirtschaftsentwicklung unerwartet nach unten oder oben abweicht, zieht das unweigerlich den Trend mit nach unten oder oben, zumal, wenn die Änderung über einige Jahre anhält. In Abschwungs- oder Aufschwungsphasen wird das Produktionspotential daher schnell und stark nach unten oder oben korrigiert. Dadurch wird der konjunkturbedingte Teil des staatlichen Budgetsaldos unterschätzt. So läuft man Gefahr, dass in konjunkturellen Schwäche- oder Stärkephasen schnell erhebliche Teile des Defizits oder Überschusses als strukturell verbucht werden, obwohl sie möglicherweise lediglich konjunkturell bedingt sind. Das hat politische Folgen: Im Abschwung wird tendenziell ein Zuviel an Konsolidierung verlangt, im Aufschwung dagegen spiegelbildlich zu wenig, was die wirtschaftliche Entwicklung unnötig destabilisiert. 

Zur Schuldenbremse tritt jedoch für die Bundesländer (und ihre Gemeinden) mit dem EU-Fiskalpakt noch ein gravierenderes Problem: Denn dieser berücksichtigt alle Schulden, die im Rahmen des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG 2010) dem Staat zugeordnet werden. Damit ist der Fiskalpakt in der Abgrenzung der Schulden noch schärfer und weitreichender als die Schuldenbremse, die neben dem Kernhaushalt nur rechtlich unselbstständige Einheiten erfasst. Darunter beispielsweise nicht die Berliner Bäderbetriebe, weil sie selbstständig sind – doch nach dem ESVG 2010 trotzdem zum Staatssektor gezählt werden.

Das Erbe der Austerität

Solange sich diese Regelungen nicht ändern, sind die Länder ab 2020 völlig dem Regime der Schuldenbremse unterworfen, das über den Konjunkturzyklus hinweg jegliche Neuverschuldung verbietet. Selbst können sie höhere Einnahmen allein über die Grunderwerbsteuer erzielen. Das heißt: Ohne substanzielle Einnahmeerhöhungen auf Bundesebene durch eine Vermögen- und Erbschaftsteuer, eine progressive Besteuerung der Kapitalerträge oder die Anhebung der Spitzensteuersätze und deren Ausschüttung an die Länder und Kommunen stehen diese vor einer fatalen Wahl: Entweder sie unterlassen notwendige Investitionen oder sie fahren an anderer Stelle ebenso notwendige konsumtive Ausgaben zurück. Das gilt auch für Berlin: In keinem anderen Bundesland wurden die öffentlichen Ausgaben, insbesondere für qualifiziertes Personal und für Investitionen, in den vergangenen bald zwei Jahrzehnten so stark reduziert. Betrugen die öffentlichen Investitionen von 1991 bis 2000 durchschnittlich 3,4 Prozent des Berliner BIP, so sanken sie im Zeitraum von 2001 bis 2015 auf durchschnittlich 1,5 Prozent des BIP. Würden die öffentlichen Abschreibungen im Landeshaushalt ausgewiesen, wäre das jahrelange Schrumpfen des Anlagevermögens der Hauptstadt offenkundig. Aber auch ohne diese Daten sind die Folgen der Austeritätspolitik der 2000er Jahre im Alltag der Berliner längst erfahrbar. Die Qualität der öffentlichen Güter, Dienstleistungen und Infrastrukturen entspricht schlicht nicht mehr den Anforderungen – noch dazu in einer seit Jahren wachsenden Stadt. Das aber stellt auch den umverteilenden Steuerstaat insgesamt vor ein Legitimationsproblem. 

Dem rot-rot-grünen Berliner Senat unter Bürgermeister Michael Müller (SPD) bleibt da kaum eine andere Möglichkeit, als die Spielräume der Schuldenbremse möglichst offensiv zu nutzen. Das geht vergleichsweise einfach mit sogenannten Öffentlich-Privaten Partnerschaften (ÖPP), da die Schuldenbremse sich nur auf die Kernhaushalte und rechtlich unselbstständige Einheiten bezieht. Das war ihren vehementen Verfechtern auch bewusst. Insofern war sie auch stets ein ÖPP-Anreiz- und Ermöglichungsgesetz. 

Doch werden ÖPP-Projekte heute realistischer eingeschätzt – und damit deutlich kritischer als noch vor ein paar Jahren: Im Regelfall führen sie zu höheren Kosten für die öffentliche Hand. Denn erstens sind die Fremdkapitalkosten privater Investoren immer deutlich höher als die der Kommunen, und zweitens wollen Privatinvestoren ihr Eigenkapital „angemessen“ verzinst wissen. Drittens treibt die obligatorische Einbindung von Beratern und Rechtsanwälten die Kosten in die Höhe. Hinzu kommen viertens die Risiken von Rechtsstreitigkeiten, die oftmals in Anbetracht höchst komplexer Vertragswerke zu Lasten der öffentlichen Hand ausgehen. 

Zukunftsinvestitionen ermöglichen

Eine weitaus bessere Möglichkeit bieten daher Öffentlich-Öffentliche Partnerschaften (ÖÖP): Bei ihnen bleiben private Investoren außen vor, in deren Taschen somit keine Gewinne fließen. Auf dieses Modell setzt daher auch der Berliner Senat. Er will bei Sanierung und Neubau von Schulen – wie bereits in Hamburg – ÖÖP-Modelle erproben. Sie sollen 1,5 Mrd. Euro umfassen, bei insgesamt in den nächsten zehn Jahren für Sanierung und Neubau veranschlagten 5,5 Mrd. Euro. 

Konkret sieht das so aus: Eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, die HoWoGe, baut bzw. saniert die Schulen und vermietet diese für 25 Jahre an die Bezirke. Vorher werden die Grundstücke oder die zu sanierenden Schulen vom Land per zweckgebundenem Erbbaurecht auf die HoWoGe übertragen. Nach Vertragsende fallen die Eigentumsrechte an den Gebäuden an die Bezirke zurück, eine andersartige Nutzung als zu Schulzwecken wird ausgeschlossen. Die rechtliche Konstruktion ist zwar identisch mit sogenannten ÖPP-Mietkaufmodellen, doch sind Private im aktuellen Modell nur als Kapitalgeber der HoWoGe involviert. Und die Kreditaufnahme der HoWoGe ersetzt die – durch die Schuldenbremse untersagte – Aufnahme von Landesanleihen, die bei einer konventionellen Baumaßnahme üblich wäre.

Zugleich ist die Kreditaufnahme bei der HoWoGe keine Umgehung der Schuldenbremse, sondern steht vollkommen im Einklang mit den rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes. So werden die negativen Konsequenzen der Schuldenbremse neutralisiert oder wenigstens abgebremst. Der Senat sollte offensiv kommunizieren, dass er den Spielraum nutzt, den die Regelung bietet. Denn die Vorteile überwiegen: Durch die ÖÖP-Regelung können trotz Schuldenbremse Zukunftsinvestitionen in großem Stil realisiert werden. 

Der Hauptnachteil dieses Modells liegt allerdings darin, dass Landesanleihen zu niedrigeren Zinsen aufgenommen werden können, die Kreditkosten in einem solchen ÖÖP-Mietmodell sind entsprechend höher. Dieser Nachteil kann durch zwei Maßnahmen – einem Einredeverzicht und der Nutzung öffentlicher Förderbanken – deutlich minimiert, wenn auch nicht komplett vermieden werden. Die Alternative allerdings wäre, gar nicht in den Schulbau zu investieren, weil eine Kreditaufnahme dem Land durch die Schuldenbremse komplett untersagt ist.

Dennoch wird dieses Vorhaben auch von linker Seite kritisiert. Attac, die Initiative Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB) und Teile der Gewerkschaft GEW befürchten eine „Privatisierung durch die Hintertür“: Erst finde eine formelle Privatisierung statt, später drohe dann eine materielle, wenn die HoWoGe verkauft oder private Investoren an den Schulen beteiligt würden. Tatsächlich ist die formelle Privatisierung der materiellen oft vorausgegangen. Doch die Landeshaushaltsordnung setzt Vermögensverkäufen von Landesgesellschaften schon jetzt enge Grenzen. So unterliegen alle relevanten Verkäufe von Tochtergesellschaften, Vermögenswerten oder Grundstücken einem Parlamentsvorbehalt. Zudem besteht eine Privatisierungsgefahr nicht nur bei Landesgesellschaften, sondern auch Schulen im unmittelbaren Landeseigentum können bei entsprechenden politischen Mehrheiten privatisiert werden. Einen deutlich besseren Schutz gegen Privatisierungen würde eine Privatisierungsbremse in der Landesverfassung bieten.

Ein weiterer Einwand gegen die Schulbauoffensive betrifft den Verlust an parlamentarischer Kontrolle und Transparenz. Denn die Steuerung von Landesbeteiligungen erfolgt über die gesellschaftsrechtlich vorgesehenen Unternehmensgremien. Vertrauliche Unternehmensinformationen erhält dasParlament nur zur Einsichtnahme im Datenraum. Notizen dürfen gemacht werden, diese verbleiben aber vor Ort und werden für die jeweilige Sitzung des zuständigen Beteiligungsausschusses des Abgeordnetenhauses ausgeteilt, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Das Management der Unternehmen ist darüber hinaus nicht automatisch weisungsgebunden und kann die Herausgabe von Informationen verweigern bzw. verzögern, da es zuerst die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben erfüllen muss. 

Doch in einem ÖÖP-Modell stellt sich die Vertraulichkeit anders dar als beispielsweise bei der Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg, die im Wettbewerb mit anderen Unternehmen steht. Die Mietverträge zwischen der Wohnungsbaugesellschaft und den Bezirken inklusive aller Nebenklauseln könnten selbstverständlich veröffentlicht werden. Das Gleiche gilt für den internen Rechnungskreis der Schulbauten bei der HoWoGe und die Kreditkonditionen bei den Banken. Ebenso ist es möglich, den Abgeordneten ein umfassendes Auskunftsrecht bezüglich aller Angelegenheiten des Schulbaus einzuräumen. Solche Transparenzklauseln wären eine vertrauensbildende Maßnahme, um deutlich zu machen, dass es darum geht, Handlungsspielraum zu gewinnen – und nicht um die Privatisierung der Schulinfrastruktur. 

Besser wäre natürlich, wenn die öffentlichen Haushalte frei von Beschränkungen durch Fiskalpakt und Schuldenbremse wären. Mittelfristig müssen deshalb die Fiskalregeln reformiert werden. Unter den gegebenen Bedingungen aber ist das ÖÖP-Modell der beste Weg, den Investitionsstau auf Landesebene zumindest abzumildern.

 

[1] Vgl. auch Sebastian Dullien, Dierk Hirschel, Jan Priewe, Sabine Reiner, Birger Scholz, Daniela Trochowski, Axel Troost, Achim Truger und Harald Wolf, Zukunftsinvestitionen ermöglichen. Spielräume der Schuldenbremse in den Bundesländern nutzen!, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2018.

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