Schlüsselwörter

1 Einführung

Dieser Beitrag entstand zufälligerweise zu Beginn einer weltweiten Pandemie, ausgelöst durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2. Im Bildungsbereich entfaltete sich binnen kürzester Zeit eine extrem transformative Kraft aus der Nutzung digitaler und vernetzter Technologien. Im Frühjahr 2020 waren mehr als 1,5 Mrd. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (Lernende) durch die Schließung von Schulen und Universitäten in mehr als 165 Ländern dieser Erde (UNESCO 2020) gezwungen, remote zu lernen und zu studieren. Ohne den direkten physischen Kontakt zu anderen Menschen zeigten sich beim Online-Learning eine Reihe besonderer ethischer Herausforderungen an eine digitalisierte Bildung. Insbesondere der hohe Stellenwert einer Teilhabe für jede*n an digitalen Lernangeboten, datenschutzrechtliche Fragen oder der Schutz und die Wahrung der Privatsphäre durch das Eindringen digitaler Bildungstechnologien (EdTech) in das private Umfeld können hier als Beispiele genannt werden. Ein neues, digital induziertes Phänomen mit ethischen Konsequenzen wird wie unter dem Brennglas ersichtlich. Gemeint ist der zunehmend spürbare Wandel in der Beziehung von Technologie und Nutzenden im Kontext einer digitalisierten Bildung, die im Ergebnis zu einer vollkommen neuen, technologiegetriebenen Bildungsauffassung führen kann. Menschliche Interaktion mit Technologie, in diesem Fall die der Lernenden und Lehrenden im Prozess der Wissensvermittlung, -aneignung und -verarbeitung durch die Didaktik, das Interpretieren, Verstehen und Anwenden von Informationen, erfährt so eine vollkommen neue Rolle. Die aktuell rasant steigenden Online-Learning-Angebote und -Tools sowie unterschiedliche nationale und internationale Initiativen zum Ausbau von Online-Learning schaffen weitere Anreize für weltweite Investitionen in EdTech und können zu neuen Marktstrukturen führen. Digitale Technologien definieren zukünftig Formen, Struktur und Erfolg von Bildung. Daher sollte uns allen daran gelegen sein, nach einer ethisch korrekten und damit verantwortungsvollen Nutzung digitalisierter Bildung zu streben.

Im Mittelpunkt steht die Frage, welche ethischen Werte und Normen für eine digitalisierte Bildung in Zukunft gelten und wie diese von allen Beteiligten entwickelt und eingefordert werden können. Dafür ist es essenziell, den Begriff der digitalen Ethik zu erfassen und diese Bereichsethik auf den Umgang mit modernen Technologien im Bildungskontext zu übertragen. Normativ entworfene Prinzipien ethischer Grundsätze liefern dann die Richtschnur für die Beschäftigung mit einer verantwortungsvollen Entwicklung und Nutzung von Bildungstechnologien. Dieser Beitrag zeigt einen Ansatz zur Begriffsbestimmung digitaler Ethik und die Möglichkeiten zur Anwendung im Bildungsbereich. Das entwickelte Rahmenwerk strukturiert universell nutzbare ethische Grundsätze und setzt diese in Relation zu den typischen Bildungsbeteiligten. Unter Ausnutzung der Vorteile einer narrativen Ethik als Stilmittel für die allgemeinverständliche Vermittlung ethischer Botschaften werden die entworfenen ethischen Grundsätze einer digitalen Ethik der Bildung als Rahmenwerk beispielhaft angewendet, durch eine exemplarisch durchgeführte empirische Befragung praktisch untersucht und evaluiert. Die Ergebnisse können einen Input liefern für die zukünftige Weiterentwicklung und Feinjustierung des Rahmenwerks. Dies ist jedoch hier nicht im Fokus.

Damit eröffnet dieser Beitrag eine systematisierte Betrachtung digitaler Ethik für die Bildung und liefert Unterstützung für eine breitflächig zu führende Debatte. Mit einer zunehmenden Digitalisierung von Bildung, nicht erst in Zeiten von Corona, zeigt sich sehr deutlich, dass eine digitalethische Debatte in der Bildung intensiviert werden muss. Dieser Beitrag soll die Wichtigkeit des Themas für den Bildungsbereich und den beteiligten Akteur*innen verdeutlichen. Das Ziel eines digitalethischen Diskurses für die Bildung ist es, neue Werte, Auffassungen und Haltungen zu skizzieren, die allen Menschen gleichwertig eine Teilhabe am technologieunterstützten Lernen ermöglicht.

2 Rahmenwerk einer digitalen Ethik der Bildung

2.1 Ethik, Moral und Technologie im digitalen Zeitalter

Der Begriff der Ethik wird oft mit einer Moralphilosophie gleichgesetzt, nach der Moral als Gesamtheit moralischer Normen, Gefühle, Einstellungen und Handlungen aufgefasst werden kann (Grimm et al. 2019). Ethik als wissenschaftliche Disziplin reflektiert Moral, indem diese einerseits moralische Phänomene und deren theoretische Voraussetzungen beschreibt, andererseits das Richtig und Falsch einer Sache untersucht. Die gültigen Normen einer Gesellschaft jedoch ergeben sich nicht von vornherein, vielmehr bedürfen sie der aktiven Auseinandersetzung durch uns Menschen. Die Suche nach optimalen Wegen, um mit Problemen und Herausforderungen, aber auch Konflikten und Zweifelsfällen angemessen umzugehen und Lösungen dafür zu finden, determiniert eine ethische Betrachtung. Dafür benötigen wir eine Haltung den Dingen oder der Sache gegenüber und wir müssen als Erstes verstehen, was das Problem überhaupt ist, wie es sich äußert und welche Interessen damit verbunden sind (Grimm et al. 2019, S. 10 f.). Also unterliegen menschliche Handlungen immer einer moralischen Abwägung, zum Beispiel welche der möglichen Fehlentscheidungen über ein Problem schwerer wiegen. Reflexionen über die Moral bedingen jedoch, dass es nicht möglich ist, sich nicht zu entscheiden. Das ist das Besondere am Begriff der Moral (Misselhorn 2018, S. 49 ff.; Gert und Gert 2017), die präskriptiv Vorschriften und Bewertungen einer Sache in Form von Normen und Werten aufstellt, die universell gelten und stets unparteiisch sein müssen. Moral steht über Konventionen unabhängig von anderen Bedingungen oder Voraussetzungen sowie einem sozialen oder kulturellen Kontext und übt in Form eines positiven Miteinanders von Menschen auch eine soziale Funktion aus. Dadurch kann sie sanktionierend und altruistisch wirken.

Ethik und Moral finden auch ihre Gültigkeit in der Betrachtung der in einer digitalen Gesellschaft geltenden Haltungen und menschlichen Handlungen. Wir leben heute im digitalen Zeitalter (Lemke und Brenner 2015), das vom alltäglichen, umfassenden und mittlerweile tief in uns verwurzelten fortwährenden interaktiven und integrativen Gebrauch digitaler und vernetzter Technologien geprägt ist (Floridi 2015). Solche Technologien der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT, kurz IT) sind in der Lage, Daten und Informationen elektronisch zu sammeln, verarbeiten und präsentieren sowie diese mit anderen Systemen und Technologien auszutauschen und dabei neue Formen der Interaktion und Integration zu schaffen. Die Wissenschaftsdisziplin der Informatik betrachtet Digitalisierung als wertdiskrete Darstellung von Symbolen auf der Basis von Nullen und Einsen. Wertdiskret bedeutet hier, dass ein exakter Wert zu einem exakten Zeitpunkt bestimmt wird. Dieses daraus generierbare Wissen durch die Verarbeitung unterschiedlichster Daten- und Informationskombinationen repräsentiert das innovative und disruptive Potenzial, auf dessen Grundlage von einem neuen Zeitalter gesprochen wird. Der Übergang vom „Atom zum Bit“ (Negroponte 1995, S. 13) ist der symbolische Quantensprung, der sich ganz allgemein in unserer menschlichen Interaktion mit Daten, Informationen, den verarbeitenden Systemen und den daraus resultierenden neuen Anwendungsformen zeigt. Wie die Ethik auch repräsentiert die Informatik menschliche Interaktionen mit der Welt, wenn auch aus dem Blickwinkel der technischen Gestaltung (Capurro 1990). Demnach könnte eine notwendige deskriptive und präskriptive Betrachtung von Ethik in der Informatik als hinfällig betrachtet werden. Dem ist jedoch nicht so, denn „[d]er Unterschied zwischen der technischen und der ethischen Auffassung menschlichen Handelns ist aber nicht aufhebbar, sondern eine Herausforderung für die philosophische Reflexion sowie für den verantwortungsvollen Einsatz dieser Technik“ (Capurro 1990). Die oft intuitive Annahme, Technologie sei neutral, unterliegt bei einer ethischen Betrachtung der Argumentation, „dass Technik allgemein Produkt menschlichen Handelns und damit immer (ob bewusst oder unbewusst) durch Normen und Werte bestimmt wird“ (Neutralitätsthese) (Loh 2019, S. 9). Menschliche Entscheidungen über die Gestaltung und Benutzung von Technologie unterliegen also stets einer moralischen Abwägung und erfordern eine grundlegende ethische Auseinandersetzung.

2.2 Digitale Ethik

Die Notwendigkeit zur ethischen Reflexion von Technologie manifestiert sich als gesonderte Bereichsethik, die den „Umgang mit einem nichtmenschlichen Gegenüber“ enthält (Loh 2019, S. 10). Unter dieser Prämisse zählen die Maschinenethik (Misselhorn 2018) mit den Spezialgebieten der Roboterethik (Lin et al. 2017; Gunkel 2018) und der Ethik der Künstlichen Intelligenz (KI) (Dubber et al. 2020; Coeckelbergh 2020) ebenso zu diesem Typus wie eine Netzethik (Capurro 2003), Informationsethik (Capurro 1988; Floridi 1999), Medienethik (Schicha und Brosda 2010) oder Datenethik (Floridi und Taddeo 2016). Alle Bereichsethiken reflektieren entsprechend ihrem konkreten Untersuchungsgegenstand normative Ethikauffassungen in Kombination mit einer Metaethik in Form von Werten und Normen. Zum Teil favorisieren sie eine Prinzipienethik, die in Anlehnung an die Kant’sche Ethikauffassung ein einziges, für alles geltendes Prinzip im Sinne eines Moralprinzips formulieren möchte.

Mit dem Fokus auf den digitalen und vernetzten Technologien, insbesondere den Bildungstechnologien, betrachtet beispielsweise eine Metaethik, was überhaupt moralische Fähigkeiten sind zur Sicherstellung einer technisch induzierten Interaktion des Menschen mit der Welt und wie sich grundsätzlich moralische Werte in ein technisches System implementieren lassen (Misselhorn 2018, S. 46 ff.). Betrachtungen der Informationsethik schließen zudem das „Menschsein im Informationszeitalter“ (Henrichs 1991) mit ein, also die Frage, wie im digitalen Zeitalter unsere menschlichen Sitten und Gewohnheiten durch Informationen (und Daten) beeinflusst und nachhaltig verändert werden. Anders formuliert geht es um „das gute Leben in einer von der Digitalisierung geprägten Welt“ (Capurro 2017, S. 187). Die Computerethik (Moor 1985; Floridi 2010; Stahl et al. 2016) repräsentierte als Erstes diese Form der Bereichsethik in den 1940er-Jahren (Capurro 2017, S. 187). Diese basiert auf der Überzeugung, dass Computertechnologie die Fähigkeit besitzt, viele Aspekte des Lebens zu verändern, und dadurch vielfältige kritische ethische Fragestellungen durch diese spezifische Computer-Mensch-Beziehung entstehen werden (Weizenbaum 1976; Wiener 1954). Unabhängig von unterschiedlichen Sichtweisen in Bezug auf Hierarchien und gegenseitigen Abhängigkeiten dieser Ethikausprägungen zueinander besitzen alle einen einheitlichen Nukleus an Moralreflexionen der Mensch-Technologie-Beziehung und finden sich seit geraumer Zeit unter dem Begriff der digitalen Ethik wieder (Capurro 2009; Floridi 2018; Grimm et al. 2019).

Die digitale Ethik adressiert ganz allgemein unsere Handlungen und Haltungen in Beziehung zu den modernen Technologien des digitalen Zeitalters. Sie reflektiert unsere Werte und Überzeugungen im Umgang mit diesen Technologien und zeigt Ansätze für deren verantwortungsvolle Anwendung zum Wohle der Gesellschaft. Digitale Ethik definiert und untersucht moralische Probleme in Bezug auf Daten und Informationen, Algorithmen sowie Infrastrukturen für das Erreichen guter moralischer Lösungen (Floridi 2018, S. 3). Die Begriffsbestimmung nach Floridi erscheint für den Versuch des Übertrags auf den Bildungskontext am geeignetsten, da mit dieser Definition der notwendige digitalethische Diskurs einfach nachvollziehbar eröffnet werden kann. So lassen sich Implikationen für das Bildungswesen, aber auch für das Design, die Entwicklung und Anwendung von EdTech gut ableiten.

Der Begriff der digitalen Ethik vereint grundlegende erkenntnistheoretische Aspekte, indem er das moralisch Richtige und Falsche im Umgang mit Technologien zu bestimmen versucht. Es stellt sich die wesentliche Frage, welche ethischen Grundsätze in einer digitalen Ethik wirken. Hier lohnt der Vergleich mit den Erkenntnissen im Bereich der KI. In Anlehnung an die für die Europäische Union vereinbarten Regeln im verantwortungsvollen Umgang mit KI wurden vier wesentliche moralische Prinzipien definiert (HEG-KI 2019, S. 12), die auch allgemein für eine digitale Ethik gelten können, da sie normative Moralmerkmale widerspiegeln. Diese ethischen Grundsätze sind durch eine übergeordnete Synthese dieser Grundwerte und weiterer 47 Prinzipien für KI-Systeme (Floridi et al. 2018) entstanden. Sie sind allgemeingültig und universell anwendbar. Spezifische Ausprägungen sind kulturell und sozial geprägt und führen zu unterschiedlichen moralischen Abwägungen und Gewichtungen. Durch die Dynamik in der Mensch-Technologie-Interaktion unterliegen die Grundsätze selbst auch einer Weiterentwicklung. Zu diesen gehören:

  • Achtung der menschlichen Autonomie: Selbstbestimmung über die eigene Person inkl. der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen; menschenzentrierte Entwicklungsgrundsätze.

  • Schadenverhütung bzw. Nichtnachteiligkeit: Schäden dürfen weder verursacht noch verschärft werden; Schutz der Menschenwürde und der geistigen und körperlichen Unversehrtheit.

  • Gerechtigkeit/Fairness: Verpflichtung zur Gewährleistung einer gleichen und gerechten Verteilung von Vorteilen und Kosten; Schutz vor unfairer Verzerrung, Diskriminierung und Stigmatisierung.

  • Erklärbarkeit: Transparenz; Kommunikation und Erklärung der Entscheidungsprozesse oder Ergebnisse.

Diese ethischen Grundsätze bilden den Rahmen für die Entwicklung, Einführung und Nutzung von nicht nur intelligenten Systemen, sondern von Technologie ganz allgemein (HEG-KI 2019, S. 14). Auf ihrer Basis leiten sich konkrete Anforderungen an das Design und die Anwendung von Technologien ab, die unter Berücksichtigung spezifischer systemischer, individueller und gesellschaftlicher Aspekte definiert wurden. Sie geben damit Handlungsempfehlungen für eine ethisch korrekte Gestaltung und Nutzung von Technologie zum Guten des Menschen.

2.3 Digitale Ethik der Bildung

Digitale Ethik der Bildung als ein Sonderbereich der digitalen Ethik adressiert die Wechselbeziehungen in der Nutzung von lern- und lehrunterstützenden Technologien des digitalen Zeitalters (Bildungstechnologien/EdTech) in den verschiedenen Lehr- und Lernumgebungen unterschiedlichster Bildungsformate im Kontext der beteiligten Akteur*innen der Bildung.

Aktuelle digitalethisch induzierte Implikationen durch eine digitalisierte Bildung zeigen sich zum Beispiel beim Aspekt der sozialen Teilhabe an digitalen Lernangeboten durch einen (performanten) Zugang zu entsprechenden EdTech-Lösungen. Die Rollen der Lernenden und Lehrenden ändern sich bei einer digitalisierten Bildung, die zum Teil das klassische Verständnis von Wissensvermittlung und -aneignung umkehren können. Grundlegende didaktische Methoden und Formate sowie die Inhalte für eine digitale Eignung unterliegen einer Neubewertung. Digitalethische Herausforderungen zeigen sich ganz elementar in der Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit der vielfältigen digitalen Tools, insbesondere der Einhaltung der für uns gültigen europäischen Datenschutzgrundverordnung, ebenso wie beim Schutz und der Wahrung der Privatsphäre oder der Privatheit. Zudem müssen Fragen neu gestellt werden, wie durch eine Verlagerung des klassischen Lernens und Lehrens in digitale Angebote Möglichkeiten zur Motivation und zur Sicherstellung der Lernbereitschaft realisiert werden können. Daneben eröffnen sich vollkommen neue Lernstrukturen wie das Lernen in tatsächlich interdisziplinären Gruppen durch die Unabhängigkeit von Raum und Zeit oder die Individualisierung des Lernens durch eine persönliche Lernanalyse. Zudem ergeben sich technikgetriebene Möglichkeiten, Menschen mit unterschiedlichen kognitiven und sozialen Voraussetzungen an Bildung partizipieren lassen, genannt sei das Beispiel humanoider Roboter in Schulen. Grundlegende Fragen nach der Bildung der Zukunft, dem Stellenwert der Wissenskultur in der Gesellschaft, nach Werten und Normen für die Gesellschaft und deren Bildungsziele bilden hierfür die digitalethischen Zieldimensionen. Die Moralreflexion ist, wenn überhaupt, erst am Beginn.

Entsprechend der staatlichen Aufgabe zur Sicherstellung von Bildung weist jedes Bildungswesen generell verschiedene Formen von Bildungseinrichtungen auf. Der nachfolgende Abschnitt dieses Beitrags fokussiert vor allem auf die Belange einer akademischen Bildung, vereint unter dem Begriff der Akteurin Bildungsinstitution. Dieser gehören die Lernenden und Lehrenden an. Die Wertschöpfungsstrukturen zur Erstellung und zum Vertrieb von Bildungstechnologien obliegt der Akteurin Bildungsindustrie, um auch hier vor allem aus digitalethischer Sicht marktinduzierte Facetten einbeziehen zu können. Die Bildungspolitik als Leitorgan für das Bildungswesen bildet mit der Bildungsindustrie den exogenen Rahmen der Bildungsakteur*innen. Im Folgenden werden alle Akteur*innen nochmals aufgeführt:

  • Lernende als die Gruppe von Menschen, die sich Wissen aneignen möchten.

  • Lehrende als die Gruppe von Menschen, die Wissen vermitteln.

  • Bildungseinrichtungen, die diese beiden Gruppen vereinen und damit die Strukturen und Prozesse abbilden, die ein Lernen und Lehren ermöglichen, indem sie digitale und vernetzte Technologien bereitstellen und rechtliche Rahmenbedingungen für die Bildung umsetzen.

  • Bildungsindustrie als Angebotsseite eines Bildungsmarktes, der Technologien, Inhalte und Strukturen zur Verfügung stellt. EdTech-Organisationen gehören dieser Kategorie an.

  • Bildungspolitik als Einheit zur Verabschiedung und Kontrolle gesetzlicher Vorgaben für die Bildung eines Landes oder Staates. Sie beeinflusst mit ihrer Gesetzgebung die Angebotsseite, vor allem aber die Nachfrageseite durch Bestimmungen und Regularien zur Umsetzung bildungspolitischer Ziele.

Diese Akteur*innen nutzen Bildungstechnologien mit ihren zugehörigen Dimensionen, die in Anlehnung an die Definition nach Floridi (2018) (vgl. 2.2) folgende umfassen:

  • Daten und Informationen, die im Bildungskontext sowohl Lern- und Lehrformate, Inhalte und Strukturen von Lernobjekten umfassen als auch die persönlichen Daten der Beteiligten, allen voran die der Lehrenden und Lernenden.

  • Algorithmen dienen nicht nur der Automatisierung und damit Effizienz- und Effektivitätssteigerung der verschiedenen Lernprozesse, sondern schaffen auch vollkommen neue Formen des Lernens und Lehrens.

  • Infrastruktur selbst stellt nicht nur eine notwendige Voraussetzung für die digitale Teilhabe an Bildung dar, sie wird auch zum Unterscheidungs- und damit Wettbewerbsmerkmal von guter oder schlechter Bildung.

Die nachfolgenden ethischen Grundsätze orientieren sich an den weiter oben vorgestellten Prinzipien für eine digitale Ethik und erfahren hier eine spezifische Prägung für die Bildung. Diese weisen gegenseitige Abhängigkeiten auf und beeinflussen sich untereinander (vgl. Tab. 1).

Tab. 1 Ausprägungen der ethischen Grundsätze für die Bildung. (Eigene Darstellung in Anlehnung an HEG-KI 2019, S. 14)

So fokussiert der ethische Grundsatz der Achtung der menschlichen Autonomie auf die Wahrung der freiheitlichen Grundwerte aller Akteur*innen. Im Kontext digitalisierter Bildung adressiert dieser Grundsatz eine menschenzentrierte Gestaltung und Nutzung von EdTech unter Berücksichtigung kultureller und sozialer Aspekte der verschiedenen teilnehmenden Gruppen. EdTech darf den Einzelnen nicht beeinträchtigen, benachteiligen oder begünstigen. Vor allem spezifische Lern- und Lehrgruppen mit eventuellen Nachteilen in der klassischen Bildung müssen bei der Nutzung digitalisierter Bildung explizit berücksichtigt werden, aber letztendlich alle Gruppen. Eine digitalisierte Bildung sollte fair für alle teilnehmenden Gruppen sein und ihnen einen gleichberechtigten Zugang zu Bildungsangeboten und -technologien ermöglichen ohne technologisch induzierte Beschränkungen oder Verzerrungen (Bias). Diese Angebote und Technologien dürfen keine Diskriminierung aufgrund unterschiedlicher ethnischer, sozialer oder wirtschaftlicher Voraussetzungen bedingen. Jede Ausprägung von EdTech muss dem Anspruch der Erklärbarkeit im Sinne einer Transparenz und Vertrauensbildung unterliegen und sicherstellen, dass alle Akteur*innen jederzeit automatisiert gesteuerte Empfehlungen, Entscheidungen oder Aktionen nachvollziehen können. Die Grundsätze einer digitalen Ethik der Bildung wirken normativ, indem sie helfen, Fragen des „Gut“ oder „Schlecht“ konkreter EdTech-Anwendungen moralisch im Kontext unterschiedlicher Perspektiven zu bewerten. Sie verdeutlichen die damit verbundenen Rechte und Pflichten von uns allen und zeigen den Weg zu einer moralisch korrekten Nutzung digitalisierter Bildung für alle im 21. Jahrhundert. Abb. 1 zeigt die verschiedenen Sichtweisen einer digitalen Ethik der Bildung, zusammengefasst als Rahmenwerk.

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Rahmenwerk einer digitalen Ethik der Bildung.

3 Methodik zur explorativen Validierung des Rahmenwerkes

3.1 Narrative der digitalen Ethik der Bildung

„Narrative sind zentrale Bedeutungsvermittler und können Werte und Normen, abstrakte Sachverhalte und Prozesse veranschaulichen sowie Emotionen auslösen“ (Grimm et al. 2019, S. 18). Die narrative Ethik verarbeitet Moral und Unmoral über Alltagsgeschichten und analysiert damit ethische Auffassungen und Haltungen ebenso wie sie deren moralische Auswirkungen reflektieren kann (Grimm et al. 2019, S. 19). Moralische Phänomene und Problemstellungen können durch diese Art der Erzählform, unabhängig von der epischen Gattung, kritisch beleuchtet werden und das Handeln und Erleben des Menschen in der Wechselwirkung mit seiner Umwelt unmittelbar verdeutlichen (Joisten 2007, S. 10 f.). Es erscheint sinnvoll, die Vorteile von Narrativen auch als Botschafter digitalethischer Werte und Normen über eine modellgetriebene Entwicklung (vgl. Abb. 2) zu generalisieren. Das bringt den Nutzen, narrative Muster für jegliche Technologieinteraktion generisch zu erzeugen. Nach solch einem Modell enthält ein Narrativ die Geschichte einer konkreten Technologienutzung auf der Grundlage der Beschreibung ihrer wesentlichen Funktionen. Diese können sich aus der Architektur einer Technologie ergeben, etwa auf der Grundlage des definitorischen Rahmens im Kontext der digitalen Ethik (Daten, Algorithmen, Infrastruktur). Die Skizzierung digitalethischer Problemstellungen in der Nutzung dieser Technologie orientiert sich an den definierten ethischen Grundsätzen und manifestiert sich in konkreten Szenarien – etwa Moral oder Unmoral in der Interaktion mit der konkreten Technologie durch die verschiedenen Beteiligten, welche den einzelnen ethischen Problemstellungen abhängig von der jeweiligen Perspektive einen unterschiedlichen moralischen Wert beimessen.

Abb. 2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Strukturmodell narrativer digitaler Ethik.

In den folgenden Abschnitten wird ein beispielhaftes Narrativ beschrieben, das sich an die in Abb. 2 dargestellte Struktur anlehnt. Die vier normativen Grundsätze einer digitalen Ethik der Bildung werden an einem Nutzungsszenario in der Interaktion mit einer Bildungstechnologie und den einzelnen Akteur*innen des Rahmenwerks beispielhaft verdeutlicht. Es wurde die Bildungstechnologie Learning Management System gewählt, da diese Systeme zu den am weitesten verbreiteten Technologien in der akademischen Bildung gehören. Bei allen Beteiligten kann daher eine gute Vorstellung zur Nutzung von Learning Management Systemen und die Wirkung ethischer Fragen in diesem Zusammenhang vorausgesetzt werden. Der initiale Entwurf des Nutzungsszenarios basiert zunächst auf den Erfahrungen der Autor*innen. Eine Überarbeitung des Szenarios findet bei einer Evaluation im Rahmen eines Expert*inneninterviews statt (vgl. 3.3). Das Ziel ist es zu zeigen, wie eine narrative Ethik die gewünschte Debatte über eine digitale Ethik der Bildung unterstützen kann.

3.2 Das Narrativ „Learning Management System“

Ein Learning Management System (LMS) ist eine zentral organisierte digitale Lernumgebung, die eines Customizing in die IT-Landschaft einer Bildungsinstitution bedarf. LMS ermöglichen die Integration einer Reihe unterschiedlicher Funktionen für verschiedene Lern- und Lehrformen zwischen Lehrenden und Lernenden (Dahlstrom et al. 2014). Sie adressieren vordergründig das formelle Lernen und richten sich stets an eine geschlossene Nutzendengruppe, die der Angehörigen einer Bildungsinstitution (Lemke et al. 2017, S. 255 f.). Die konkrete Ausgestaltung eines LMS ist von den spezifischen Sichtweisen einer Bildungsinstitution und deren Strategie anhängig und wird ganz allgemein zur Bereitstellung von Lerninhalten genutzt und für verschiedene Formen des Online-Learning (Pappas 2017). Die Verwaltung von Lehrmaterialien und deren Zusammenfassung zu Kursen stellt einen zentralen Kern von LMS dar und steht daher im Mittelpunkt dieses Narrativs. Grundlegende ethische Problemstellungen in der Nutzung dieser Technologie werden daran verdeutlicht, wohl wissend, dass damit nur ein Bereich heutiger LMS als mächtige Standardapplikationen (Capterra 2018) für den Bildungsbereich abgedeckt wird (vgl. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

(Eigene Darstellung)

Narrativ LMS mit möglichen Beispielszenarien in der Beziehung 1: 1 zwischen Szenario und ethischem Grundsatz.

Die Definition von Kursen, die Erarbeitung oder Übertragung von Kursinhalten sowie die Strukturierung nach einem didaktischen Konzept sind die zentralen Aufgaben des Managements der Inhalte für Lehrende und Lernende. Dazu zählen Möglichkeiten, Materialien zunächst zu verbergen, um sie im weiteren Kursverlauf den Lernenden anzubieten. Durch den standardisierten Zugriff auf die Inhalte durch Webtechnologien und die Integration verschiedener Betrachtungswerkzeuge können auch ganz unterschiedliche Medien, auch aus externen Quellen, eingesetzt werden. Schließlich sind auch Mechanismen möglich, die eine Bewertung der Materialien durch die Lernenden ermöglichen und damit Informationen zur Eignung und eine aktive Auswahl in späteren Lernprozessen bieten. Weiterhin bieten LMS die Integration von Werkzeugen zur Kommunikation (etwa Chats und Foren), Kollaboration (Whiteboards und Wikis) und zur Unterstützung des individuellen Lernens (Notizbücher und Annotationsfunktionen) innerhalb von Kursen an. Die Lehrenden haben dafür oftmals eine von der Bildungsinstitution spezifisch vordefinierte Struktur des Systems zur Verfügung. Dabei kann das LMS die Lehrenden durch die Protokollierung der Verhaltensdaten der Teilnehmenden während eines Kurses (Tracking) sowie bei der Auswertung dieser Daten für Übersichten, Vergleiche und die Planung weiterer Maßnahmen (Analyse) zusätzlich unterstützen. So kann individuell für Teilnehmende erkannt werden, welche Themen als Nächstes angemessen sind und welche Aktionen entsprechenden Erfolg bringen würden. Es lässt sich frühzeitig entdecken, wenn Teilnehmende die Anforderungen an einen Kurs nicht erreichen können. Übersichten machen den Lehrenden deutlich, wie schnell die Kursteilnehmenden insgesamt vorankommen oder welche Materialien gut oder auch eher nicht gut angenommen werden. Das folgende ausgewählte Szenario dient der Verdeutlichung einer spezifischen Situation im Umgang mit Funktionen dieser Bildungstechnologie und den damit verbundenen ethischen Problemstellungen. Hier sind vielfältige Szenarien vorstellbar – in diesem Beitrag wird beispielhaft nur ein mögliches Szenario für den ethischen Grundsatz der Autonomie skizziert (vgl. Tab. 2).

Tab. 2 Beispielszenario. (Eigene Darstellung)

3.3 Explorative Validierung mittels Expert*inneninterview

Die vorgeschlagene Methodik sieht vor, dass zunächst eine Überprüfung der Narrative durch Expert*innen stattfindet, was zu einer Anpassung und damit Schärfung der ethischen Problemstellungen führen sollte. Das entworfene Narrativ wurde im Rahmen eines Expert*inneninterviews validiert. Das Gespräch fand im April 2020 mit einer Professorin an einer US-amerikanischen Universität mit langjähriger Lehrerfahrung (on- und offline) aus dem Blickwinkel der Akteurin „Bildungsinstitution“ statt. Ziel war es, die Methodik zu überdenken, die Beschreibung des Narrativs zu diskutieren sowie die Eignung ausgewählter eigens entworfener Fragen für spätere Interviews weiterer Akteur*innen zu evaluieren. Ein erstes wesentliches Ergebnis zeigte die gute Eignung des Stilmittels der narrativen Ethik, ethische Phänomene in Erzählform zu vermitteln und die ethischen Probleme zu verdeutlichen. Dies sollte aber in einer anschaulichen und nachvollziehbaren Form erfolgen, damit die Botschaften tatsächlich übermittelt werden können, da Diskussionen über moralische Prinzipien immer in einen Kontext eingebunden sind und damit der Perspektive und Wertung der Betrachtenden unterliegen. Für zukünftige Interviews von Akteur*innen als Aufgabe weiterer empirischer Arbeit sollten die ethischen Fragen jeweils spezifisch an die Szenarien angepasst werden. Tab. 3 zeigt Beispiele für verschiedene Fragetypen bei einer solchen Befragung, die im Rahmen des stattgefundenen Expert*inneninterviews diskutiert wurden.

Tab. 3 Beispielfragen an Akteur*innen. (Eigene Darstellung)

Aus dem Expert*inneninterview ergab sich, dass alle vier Fragetypen wichtig sind. Die Fragen sollten dann aus Sicht der befragten Akteurin beantwortet werden. Als besonders interessant schätzte die Expertin die Möglichkeit ein, eine Akteurin, einen Akteur die gleichen Fragen aus Sicht anderer Akteur*innen beantworten zu lassen (zum Beispiel Lehrender in der Rolle eines Lernenden). Der letzte Fragentyp der relativen Bedeutung eines ethischen Grundsatzes im Vergleich zu den anderen kann mögliche Spannungen zwischen diesen aufzeigen, was zu einer relativen Gewichtung oder Abwägung eines oder mehrerer Grundsätze führt. Dies würde helfen zu verstehen, wie verschiedene ethische Perspektiven von kulturellen, sozialen und organisatorischen Aspekten abhängen. Es kann auch Sinn ergeben, weitere Szenarien anonymisiert von den Befragten zu eruieren, die diese selbst erlebt haben und in denen einer (oder mehrere) der ethischen Grundsätze verletzt oder berührt wurden. Damit kann zum einen validiert werden, ob die Befragten die ethische Grundaussage verstanden haben. Zum anderen können diese neuen Szenarien auch für zukünftige Interviews genutzt werden, da diese nicht abstrakt sind, sondern reales Erleben widerspiegeln und damit Fragen zu diesen Szenarien einfacher zu beantworten sind. Aus dem Expert*inneninterview ergaben sich Ideen für eine Weiterentwicklung des Narrativmodells. Diese enthalten zum einen den umfassenden Vergleich mit anderen Instrumenten für Befragungen über ethische Grundsätze auf der Grundlage einer noch durchzuführenden Literaturrecherche, der dazu beitragen kann, das Rahmenwerk weiterzuentwickeln. Zum anderen wäre es laut Interviewergebnissen denkbar, die ethischen Grundsätze durch eine breitere Betrachtung von digitaler Ethik zu erweitern.

4 Ausblick

Digitale Ethik der Bildung steht erst am Anfang. Es bedarf noch einer breiten wissenschaftlichen und anwendungsorientierten Betrachtung, um alle notwendigen Facetten erfassen zu können, die spezifisch im Bildungskontext wirken. Dies impliziert vor allem auch interdisziplinäres Arbeiten unterschiedlicher Fachrichtungen. Als Beginn solch einer Diskussion könnten Themen stehen wie:

  • eine gemeinschaftlich und konsensgetriebene Entwicklung grundlegender ethischer Prinzipien einer digitalisierten Bildung,

  • die verbindliche Definition allgemeingültiger Imperative für eine digitalisierte Bildung ohne Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen,

  • das Bestreben nach Entwicklung grundlegender Richtlinien für eine ethisch korrekte Gestaltung und Nutzung von Bildungstechnologien aus gesellschaftlicher Perspektive oder

  • die Definition von Standards für eine ethisch korrekte Bildungsindustrie als Hersteller und/oder Anbieter solcher Technologien.