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Politik und Lobbyismus Die Drehtür der Demokratie

Von Andreas Polk
Unsere Politiker dienen sich der Industrie an, um dort nach ihrer Amtszeit lukrative Posten zu bekommen. Dieser Vorwurf ist weit verbreitet, klingt einleuchtend, ist empörend - und dabei falsch und gefährlich.
Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel entsteigt einem VW Passat (Archivbild)

Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel entsteigt einem VW Passat (Archivbild)

Foto: Michael Kappeler/ picture alliance / dpa

In der vergangenen Woche schrieb Stephan-Götz Richter über die Amerikanisierung der Berliner Republik, die sich - nach seiner Lesart - im Wesentlichen durch zwei Merkmale auszeichnet: Die Lobbyisierung der deutschen Politik, die dazu führe, dass eine eigentlich am Gemeinwohl orientierte Politik zunehmend durch Partikularinteressen ersetzt werde, sowie die Kaschierung dieses Effekts durch politische Gefühlsduselei, um das Wahlvolk zu beruhigen.

Manches an dem Gesagten ist richtig: Auch wenn das politische System hierzulande insgesamt gut funktioniert, müssen wir uns davor hüten, überheblich und selbstgerecht die deutsche Politik als das Maß aller Dinge zu betrachten. Ohne Vorgaben aus Brüssel, die es immer wieder schaffen, eine interessengruppenbedingte deutsche Sklerose zu durchbrechen, wären manche Reformprojekte nicht vorangebracht worden. Als Beispiele dienen die Fortschritte auf den Telekommunikationsmärkten oder die durch Brüssel forcierte Entflechtung der deutschen Energiemärkte.

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Foto: Privat

Prof. Dr. Andreas Polk (@RuhrPottPolk ) ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Er forscht und lehrt zu Fragen des Lobbyismus sowie zur Wettbewerbs- und Regulierungspolitik.

Also alles richtig? Jein. Auch wenn der Einfluss von Interessengruppen auf die Politik kritisch zu hinterfragen ist, sei vor zu schnellen Schlussfolgerungen gewarnt. So ist das unsägliche Verhalten mancher Spieler der Automobilindustrie in Hinblick auf Kartellverdacht und massenhaften Betrug am Kunden, gepaart mit der Unverfrorenheit, seine Opfer zwecks Heilung des Schadens zu weiteren Käufen zu verpflichten (Altersatz durch Neukauf mit Prämie), weniger ein Beispiel für fehlgeleitete Interessengruppenpolitik, als vielmehr die Konsequenz fehlgeleiteter Organisations- und Anreizstrukturen in Unternehmen.

Auch der Umgang seitens der Politik mit der Krise lässt mehrere Interpretationen zu. Dass vor allem Vertreter des VDA so engen Zugang zur Regierung erhalten, ist in der Tat zu bemängeln. Fraglich ist jedoch, ob die Ursache dafür in Belohnungen oder sonstigen undemokratischen Maßnahmen zur Einflussnahme zu finden ist. Dieser Vorwurf wird zwar oft wiederholt, wird dadurch aber nicht richtiger. Hier entfaltet vermutlich ein viel profanerer Mechanismus Wirkung: Die Tendenz, auf die Stimmen zu hören, die die eigene Meinung bestätigen. Diese Voreingenommenheit ist in der Tat zu kritisieren. Eine am Gemeinwohl ausgerichtete Politik sollte sich nicht vor Interessengruppeneinfluss zurückziehen, sondern allen, also auch entgegengesetzten Interessen, Gehör verschaffen. Nur so ist eine ausgewogene Politikfindung möglich. Voreingenommenheit ist schädlich, sie ist aber kein Ausdruck von Käuflichkeit.

Das Problem ist also nicht der Interessengruppeneinfluss per se, sondern die Art und Weise, wie er ausgeübt wird, was wir darüber erfahren, und wie die Politik im Sinne des Gemeinwohls damit umgeht.

Die meisten Abgeordneten haben keine bezahlten Nebentätigkeiten

Vielfach wird davon ausgegangen, dass sich Politiker für lukrative Jobs nach ihrer aktiven Zeit "in vorauseilendem Gehorsam" an die Meinung von Interessengruppen anpassen, um Jobchancen zu erhöhen. Auch wenn das im Einzelfall nicht auszuschließen ist, ist der Vorwurf, dies fände regelmäßig statt, nicht nur unbelegt, sondern auch gefährlich.

Unbelegt, weil die wenigen Daten, die uns über Lobbyismus in Deutschland zur Verfügung stehen, nicht darauf hinweisen, dass hierzulande systematisch Politik gekauft wird. Die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten hat keine bezahlten Nebentätigkeiten, viele engagieren sich ehrenamtlich in Vereinen. Wer von uns tut das auch? Vorauseilender Gehorsam für lukrative Nebenjobs im Zuge der Drehtür mag zwar in Einzelfällen vorkommen. Aber: Gibt es eine Systematik? Und gibt es die behauptete Kausalität im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams? Könnte es nicht auch sein, dass sich Politiker aus Überzeugung für eine bestimmte Politik einsetzen, und als Konsequenz für die Privatwirtschaft attraktiver erscheinen?

Einen Hinweis hierfür können die Daten über Nebentätigkeiten und Parteispenden geben. Es zeigt sich - grob ausgedrückt -, dass Abgeordnete wirtschaftsnaher Parteien wie CDU und FDP eher Nebentätigkeiten durchführen und Spenden erhalten als Vertreter der Parteien des anderen Flügels. Nach der Käuflichkeitsinterpretation hieße dies, dass diese wirtschaftsnah seien, damit sie Zuwendungen erhalten. Ist das überzeugend? Vermutlich ist es eher so, dass sie Zuwendungen erhalten, weil die Politik, die sie aus ihrer Sicht im Sinne des Allgemeinwohls vertreten, wirtschaftsnah ist, und dies bestimmte Gruppen ideologisch unterstützen. Auf die Drehtür übertragen: Möglicherweise erhalten diejenigen Politiker lukrative Jobs, die aufgrund ihrer Fähigkeiten, aber auch aufgrund ihrer Netzwerke, für Unternehmen und Verbände attraktiv sind. Und sind nicht eher die attraktiv, die den Branchen aus Überzeugung, also intrinsisch motiviert, offen gegenüberstehen? Die unterstellte Kausalität zwischen der an Partikularinteressen ausgerichteten Politik zwecks anschließender Belohnung ist also nichts weiter als eine Unterstellung. Denkbar. Belegt ist sie aber nicht.

Zweitens: Die Suggestion der systematischen Käuflichkeit der Politik, die regelmäßig auch von anderen Interessengruppen (!) wie Lobbycontrol bedient wird, ist gefährlich. Denn sie ist aufgrund unbelegter Behauptungen geeignet, eine Politikverdrossenheit zu fördern, die - basierend auf ebendiesem Vorurteil, dass "die da oben" ohnehin nur in die eigenen Taschen wirtschaften - kritisch für die Stabilität des demokratischen Systems sein kann. Man könnte auch sagen, die Instrumentalisierung des Themas "Lobbyrepublik Deutschland" nach den Spielregeln des journalistischen Aufmerksamkeitsgeschäfts läuft Gefahr, die Geister der Politikverdrossenheit zu rufen, die die Protagonisten zu bekämpfen vorgeben.

Was genau ist eigentlich Gemeinwohl?

Das ist zugespitzt, zugegeben. Aber die Sache ist nun mal knapp komplexer als trivial. Denn jenseits der Fragen von Transparenz, Organisationsgrad und persönlicher Integrität stellt sich die Frage, was das viel beschworene Allgemeinwohl eigentlich ist. Hierzu gibt es keinen Konsens. Ebenso schwierig ist es, am Gemeinwohl orientierte Lobbygruppen zu identifizieren. Während sich für Amnesty International oder Ärzte ohne Grenzen tatsächlich so etwas wie Gemeinwohlorientiertheit unterstellen lässt (einen Konsens gegen Folter beziehungsweise für medizinische Krisenversorgung vorausgesetzt), wird das schon bei Gruppen wie Greenpeace, Foodwatch oder Lobbycontrol schwieriger. Ich persönlich unterstütze ihre Ziele vielleicht. Aber ist es nicht anmaßend zu unterstellen, sie verfolgen Ziele im Sinne des Gemeinwohls, nur weil ich sie persönlich für sinnvoll erachte?

Das Problem des Allgemeinwohlbegriffs zeigt sich auch am politischen Umgang mit der Automobilindustrie. Betrug muss geahndet werden, die Betrogenen sind zu entschädigen. Dennoch lässt sich das Argument nachvollziehen, dass sich die Automobilindustrie und ihre Zulieferer in einem kritischen und ungewissen Strukturwandel befinden, der Ressourcen bindet. Niemand kann in Deutschland glücklich darüber sein, wenn diese Treiber für Arbeitsplätze, Innovation und Wohlstand langfristig geschwächt werden. Wer nun "selbst Schuld" ruft, der trifft wohl die Falschen. Die meisten Mitarbeiter in Wolfsburg oder Stuttgart sind für die Managementfehler ebenso wenig verantwortlich wie Sie und ich, und die, die es offenbar zu verantworten haben, sind wirtschaftlich ohnehin abgesichert. Ein Dilemma, sicher. Die Politik muss damit aber umgehen.

Arbeit, Wohlstand, Umwelt - alles schützenswert

Natürlich ist eine deutsche Politik des Schulterzuckens und Weiter-so, wie sie die jetzige Regierung verfolgt, falsch. Sie untergräbt das Vertrauen in unser System gesellschaftlicher Verantwortung. Trotzdem lassen sich Argumente für andere Standpunkte nachvollziehen, auch jenseits eines unterstellten Einflusses von Interessengruppen, und durchaus am Gemeinwohl orientiert: Arbeitsplätze, Wohlstand, Umweltstandards, Innovationskraft. All das soll geschützt werden.

Einfach ist es also nicht. Zugegeben: Die konstatierte Einheitssoße im Deutschen Bundestag mag nicht ganz überzeugen. Vielleicht ändert sich diese Rezeptur auch bald. Es könnte aber auch sein, dass die Pflege des Status quo, eine in der Tat nicht ganz risikolose Politik, ein Ausdruck der Tatsache ist, dass die Mehrheit der Bürger tatsächlich insgesamt mit ihren Lebensumständen zufrieden ist. Und die Themen, die auf der Agenda stehen (Digitalisierung, Investitionsstau, Integrations- und Einwanderungspolitik), sind eben komplex und nicht einfach, geschweige denn plakativ zu lösen. Wer sich mit ihnen beschäftigt, kommt vielleicht - egal, welcher Parteicouleur - zu ähnlichen Lösungsansätzen. Schlagworte mögen sich für den Wahlkampf eignen, bei der Umsetzung politischer Lösungen liegt die Krux im Detail. Das stark am Konsens ausgerichtete deutsche Modell zeigt hier durchaus Stärken.

Vielleicht erfährt das Volk das Maß an Gefühlsduselei, das es verdient. Wäre dies nicht der Fall, würde sich eine an komplexen Sachargumenten abarbeitende Partei im Wahlkampf positiv hervortun. Die Gefühlsduselei dem Einfluss von Interessengruppen und einer Käuflichkeit der Politik zuzuschreiben, ist aber verkürzt. Fördern wir also nicht noch durch das Schüren von Vorurteilen die Politikverdrossenheit des lauten Volks, das eine Gemeinwohlorientierung, Selbstlosigkeit und Leistungsfähigkeit der politisch Aktiven einfordert, ohne selbst Ähnliches zu leisten. Stoßen wir nicht in dieses Horn.